Wenn das Ausfüllen eines Formulars zur Mammutaufgabe wird

Inklusionsberatung des Diakonischen Werks Westerwald hilft Menschen mit Behinderung, Berge abzutragen.

Eine junge Frau, nennen wir sie Gabi, kann nicht mehr. Sie leidet unter Depressionen, hat kaum Selbstwertgefühl und ist wegen eines psychischen Zusammenbruchs nicht mehr in der Lage, in ihrem Job als Pflegekraft arbeiten. Und nun auch noch das: Ihr Stromanbieter verlangt eine Nachzahlung von 150 Euro. Geld, das Gabi diesen Monat nicht mehr hat. Völlig aufgelöst greift sie zum Telefon und ruft beim Diakonischen Werk Westerwald an. Dort kümmert sich Christine Gerling um Gabi, kennt ihre Geschichte und hört ihr auch dieses Mal einfach nur zu. Christine Gerling ist Mitarbeiterin der Inklusionsberatung und kennt viele Menschen, die in einer ähnlichen Situation wie Gabi stecken. Menschen, die wegen einer Beeinträchtigung nicht mehr in der Lage sind, ihren Alltag zu strukturieren, neuen Mut zu fassen, Perspektiven zu entwickeln, geschweige denn: einen Job zu finden. Dabei ist das der große Wunsch vieler Klienten, um die sich Christine Gerling und die anderen Mitarbeiterinnen der Inklusionsberatung kümmern: zu arbeiten. Doch bis die Klienten so weit sind, dauert es. Manchmal Jahre.

Denn vorher müssen Christine Gerling, Blerjana Terreping, Claudia Ulrich und Martin Willuweit Berge abtragen. Das Team der Inklusionsberatung verwendet dieses Bild oft, wenn es über die tägliche Arbeit spricht. Viele der Klienten sehen die großen und kleinen Herausforderungen des Alltags wie einen riesigen Berg vor sich. Denn wenn die Kraft fehlt, werden das Ausfüllen eines Formulars oder der Gang zum Arbeitsamt zur Mammutaufgabe.

Einen Job vermittelt das Team der Diakonie zwar nicht, erklärt Martin Willuweit. „Das ist die Aufgabe des Jobcenters. Die können das, und für die ist es auch kein Problem, eine Arbeit für unsere Klienten zu finden. Aber oft sind die Menschen, denen wir helfen, gar nicht in der Lage, sich überhaupt an die Agentur zu wenden.“ Den Menschen macht nicht nur ihre Behinderung zu schaffen; oft rauben ihnen auch andere Dinge die Kraft, zum Beispiel Probleme in der Familie, Schulden, Drogen, Vereinsamung. Sie brauchen Hilfe. Doch die Behörden, die helfen könnten, erleben die Betroffenen anders, glaubt Willuweits Kollegin Claudia Ulrich: „Viele fühlen sich durch das System verletzt. Sie suchen auf einem Amt Hilfe, aber alles, was sie dort bekommen, ist ein Antrag, der sie erneut überfordert. Und den Mitarbeitenden der Agentur für Arbeit fehlt oft die Zeit, den Menschen die Dinge in Ruhe zu erklären.“

Das Team der Inklusionsberatung nimmt sich diese Zeit. „Ziel ist, die Menschen zu befähigen und zu stabilisieren, damit sie irgendwann in der Lage sind, selbst aktiv zu werden“, sagt Blerjana Terreping. Bis dahin helfen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Schriftverkehr, Telefonaten und finden Lösungen, wenn’s irgendwo hakt. „Wir nehmen uns Zeit, trinken mit den Klienten einen Kaffee und geben ihnen die Sicherheit, dass wir sie zuerst als Mensch sehen“, sagt Christine Gerling. Die Hilfesuchenden wissen das zu schätzen und sind dankbar für die Hilfe. „Es kommt vor, dass uns Klienten zum Frühstück einladen oder etwas Nettes auf den Anrufbeantworter sprechen“, freut sich Christiane Gerling.

Zeit nehmen und zuhören. Mit dieser Strategie gelingt es dem Team der Inklusionsberatung immer wieder, dass aus großen Bergen kleine Hügel werden. Und irgendwann kommt es dann, das Jobangebot. Wie lange das dauert? „Das ist ganz unterschiedlich“, sagt Martin Willuweit. „Es dauert eben. Aber das ist in Ordnung, da es für die Maßnahme keine zeitliche Begrenzung gibt.“

Bis dahin geht das Team der Inklusionsberatung mit den Menschen kleine Schritte, einer nach dem anderen und in aller Ruhe. Und manchmal ist es schon ein Erfolg, wenn ein Telefonat besser endet als es angefangen hat. Christiane Gerling erklärt Gabi am Telefon Möglichkeiten, die sie hat, um sich kurzfristig Geld zu leihen oder die Nachzahlung in Raten abzustottern – eben, dass der riesige Berg, der sich vor ihr auftürmt, in Wirklichkeit gar nicht so groß ist. Am Ende weint Gabi nicht mehr. Am Ende ist sie erleichtert, dass ihr Christine neue Wege aufgezeigt hat. (bon)

Weitere Infos zur Inklusionsberatung des Diakonischen Werks Westerwald gibt es unter www.diakonie-westerwald.de/inklusionsberatung.html oder per Telefon: 02602/1069860.

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